Ist die Epidemie in Deutschland vorbei?
In den WNOZ vom 13.6. erklärte der in Weinheim lebende Prof. Dr. Ralf Otte, dessen Forschungsgebiet die Künstliche Intelligenz (KI) ist: „Die Epidemie in Deutschland ist vorbei“. und sprach sich für die Aufhebungen von Kontaktbeschränkungen aus. „Wenn wir alle bald diesen [den Thüringer] Weg einschlagen, dann wird es definitiv auch keine zweite Welle im Herbst geben. Denn dann bauen wir im Sommer und in den Ferien unser Immunsystem auf und bilden bei Viruskontakt die begehrten Antikörper.“
Als Wissenschaftlerin (Biologin) ist meine Sicht der Situation eine andere.
Prof. Otte hatte Anfang April erklärt, dass sein mit den Methoden der KI erstelltes empirisches Modell zur Simulation der Covid Fallzahlen schon Anfang April gezeigt habe, dass es den befürchteten exponentiellen Anstieg der Todesfälle in Deutschland nicht geben werde (WNOZ 7.4.). Im Rückblick sieht er sich bestätigt, dass die vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Prognosen die Ausbreitung der Covid Infektion überschätzt hätten. Nun kann man über die Zahlen, die den Prognosen zugrunde lagen und ihre Angemssenheit sehr wohl verschiedener Meinung sein. Eines ist aber allen Zahlen (Infizierte, Infektionsraten, robuste Infektionsraten) gemeinsam. Sie waren und sind auch immer noch das Resultat von Tests, deren Ziel es war und ist, Fälle zu erkennen, Betroffene medizinisch zu versorgen, und Infektionsketten zu unterbinden. Als solche sind sie für wissenschaftliche Studien inkl. Modellierungen nicht optimal.
Auch wurden die Modelle und Prognosen in einer sich dynamisch entwickelnden Situation gemacht, in der fortlaufend äussere Bedinungen geändert wurden durch Massnahmen zur Eindämmung der Infektionen. Die Abflachung der Wachstumskurve von Covid-19 Ende März folgte den Massnahmen, welche im März getroffen wurden: Absage von Grossveranstaltungen am 8. 3., Schulschliessungen am 13. 3, Reisebeschränkungen am 17. 3, und Kontaktbeschränkungen und Mindestabstand am 22. 3. Eine plausible Erklärung für dieses Zeitmuster ist, dass die drastischen Einschränkungen im März zur Eindämmung der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus Anfang April in Deutschland geführt haben. Ein Blick über die Grenzen in Länder, welche andere Wege gegangen sind, unterstützt eine solche Interpretation. Auch Prof. Otte bewertet im übrigen den Lockdown im Nachhinein als nützlich.
Mit Blick auf die derzeitige Situation stimme ich mit Prof. Otte überein, dass das Infektionsrisiko in Deutschland z.Zt. niedrig ist, und auch wenn es eine grosse Zahl nicht bestätigter Infizierter gibt, und nicht jede(r) Infizierte hoch infektiös ist (wie wir mittlerweile aus Studien von Virologen und Epidemiologen wissen), ist die Chance einer Infektion derzeit erfreulich gering. Solange es aber immer wieder Infektionsherde in Deutschland gibt, und solange das Virus sich in vielen anderen Ländern noch sehr schnell verbreitet, ist meine Antwort auf die Frage, ob die Epidemie vorbei ist, ein entschiedenes Nein. Nach wie vor sind wir darauf angewiesen, dass unser Gesundheitssystem schnell Infektionen registrieren, Erkrankte behandeln und Ausbreitungen schnell eingrenzen kann. Dabei kann auch die Corona-Warn-App im Fall von Infektionsherden mit plötzlich hohen regionalen Zahlen (noch) helfen.
Ich sehe keine Evidenz für die Zuversicht von Prof. Otte, dass wir über den Sommer unsesr Immunsystem aufbauen und Antikörper bilden werden. Ein socher Rat lässt sich nicht aus Modellrechnungen ableiten, und ich halte ihn für gefährlich. Antikörper bilden sich als Reaktion auf eine Infektion oder als Reaktion auf einen Impfstoff. Einen Impfstoff wird es so bald nicht geben. Eine breite Immunität als Folge einer Covid Infektion heißt, dass sich viele über den Sommer (einem kurzen Zeitraum) infizieren müssen, und unter diesen wird es auch Menschen mit schweren Krankheitsverläufen geben. Weiterhin kann es deshalb nur das Ziel sein, die Infektionszahlen möglichst auf einem niedrigen Niveau zu halten, damit den Erkrankten weiterhin effektiv geholfen werden kann. Aufbau von Immunität über den Sommer heißt nichts anderes als schnelle Ausbreitung des Virus und „Durchseuchung“. Niedrige Infektionszahlen und hohe Immunität in der Bevölkerung sind nicht gleichzeitig möglich.
Brigitte Demes